Amazonas-Indianerin
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Sogenannte
'primitive' Völker, in denen die jungen Mütter engen Leibkontakt mit
ihren Säuglingen halten, bestätigen die vermuteten psychischen
Auswirkungen frühkindlicher Frustration. Die sexuell toleranten und von
Eifersucht weitgehend freien Dogon in Afrika haben das
unausgesprochene Prinzip, die Säuglinge zu stillen, so lange und so oft
diese Lust haben. Der Zusammenhang ist von unseren tiefenpsychologisch
zumeist nicht geschulten Völkerkundlern noch kaum beachtet worden. Das
vorliegende Material reicht aber aus, nachdenklich zu stimmen.
Es gibt von Eifersucht freie Gemeinschaften.
Die
Völkerkundlerin Margaret Mead berichtet von einer Samoanerin, die auf
eine vorüberkommende Frau ihres Stammes gezeigt habe: "Das ist meine megan."
Das heißt auf deutsch etwa: meine Mitfrau. So stolz habe sie es gesagt,
wie wenn bei uns zulande ein Mädchen uns darauf aufmerksam mache, dass
seine "beste Freundin" komme.
Solche völkerkundlichen
Beispiele – das Anbieten der eigenen Ehefrau an den Gast bei den
Eskimos wie andernorts, Vielmännerei bei den Nayar in Indien, wären
weitere – zeigen anschaulich, dass das Verhältnis der Geschlechter
zueinander nicht so sein muss, weil es sich bei uns eingespielt hat,
nach Phasen relativer Freizügigkeit im Mittelalter.
Beispiele aus
"Primitivkulturen", in denen Menschen ohne Eifersucht zusammenleben,
stoßen bei uns auf das Bedenken, dass dergleichen auf eine hochstehende
Industriegesellschaft nie und nimmer zu übertragen sei. Dazu ist einmal
zu sagen, dass es "die Primitiven" als einheitliches Kulturphänomen gar
nicht gibt. Es besteht kein zwingender Zusammenhang von Triebverzicht
und kultureller Höherentwicklung. Dabei bedarf der Begriff der
"Kulturhöhe" einer Erläuterung.
Hochkultur
Soll
"Hochkultur" nur bedeuten, dass es sich im konkreten Falle um eine
Kultur handelt, in der die Menschen zur Verständigung und zur
Unterstützung des Gedächtnisses eine Schrift entwickelt haben? Oder
soll Hochkultur in jedem Fall eine technisch entwickelte Kultur
sein?
Unsere Industrie-Kultur ist zweifellos hoch: sie ist
- hochtechnisiert,
- hochkompliziert, aber auch
- hochneurotisiert.
Hieran schließt sich die Frage, wie hoch, ethisch bewertet, unsere Kultur zu veranschlagen ist.
Die
bislang periodisch wiederkehrenden Kriege, die Hexen- und
Ketzerverbrennungen des Mittelalters, die Konzentrationslager der
Gegenwart und die sich abzeichnende Umweltzerstörung sind integrale
Bestandteile unserer Kultur. Sie sind ihr so innig einverwoben wie die
Innigkeit und die sittliche Betulichkeit, der sie die Waage halten.
Die
meisten sogenannten primitiven Völker haben sich von der technischen
Überlegenheit der Europäer blenden lassen – und ihre Sendboten oder
Missionare zunächst gar als Götter empfangen.
Wenig von den Weißen beeindruckt waren die Eskimos.
Nansen
erzählt, sie hätten die Europäer für "eine Art höhere Tiere" gehalten,
weil die weißen Matrosen sich zankten und prügelten. Nansen selbst
bewunderte die Wahrheitsliebe der Grönländer.
Vertreter einer technischen Hochkultur und Angehörige einer ethischen Hochkultur waren sich begegnet.
Ortega
y Gasset hat die abendländische Kultur des 20. Jahrhunderts als die
Kultur des Massenmenschen beschrieben und diesen als einen
"zivilisierten Wilden" scharf gekennzeichnet.
Zum
Wesen des Massenmenschen gehört indessen, das er auswechselbar ist und
sich als jederzeit ersetzbar empfindet. Das gilt für die berufliche
Stellung wie für die private Rolle. Eifersucht, wie immer sie aus dem
Triebschicksal des Einzelnen sich herleitet, ist die fast bewusst
gewordene Angst, von einem anderen verdrängt und ersetzt zu werden.
Blicken
wir aufs Ganze unserer hochkomplizierten Massengesellschaft, so
erscheint unsere Kultur schon von ihren sozialen, juristischen und
verwaltungstechnischen Organisationen her als hochentwickelt.
Und doch ist die Planung, Steuerung und Weiterentwicklung dieses hochentwickelten Systems nur eine Sache weniger Experten in Politik, Justiz, Verwaltung, Wirtschaft und Technik.
Der sogenannte Mann auf der Straße überblickt das nicht; ahnt kaum, was er über seinen Kopf hinweg geplant wird.
Unsere
Hochkultur ist – allem Vertrauen in die Lebensform der Demokratie zum
Trotz – die Kultur einer Elite. Die schöpferischen Kräfte des
durchschnittlichen Bürgers liegen brach. Während die "primitive"
Eskimofrau noch alle Kleidung ihrer Familie – vom Schuhwerk bis zu den
Pelzmützen – selber herstellte und kunstvoll verzierte, kauft der
"Normalmensch" unserer "Hochkultur" nahezu alles von der Stange.
Der
Einwand, Primitivkulturen könnten uns Bürger einer Hochkultur über gar
nichts belehren, ist mit Vorsicht zu nehmen, wenn man nicht weiß, was
eine "Hochkultur" sein soll. Weitgehend eifersuchtfreie und
aggressionsfreie Kulturen mit geringem technischem Status zeigen nicht
mehr und nicht weniger als eine anthropologische Möglichkeit auf.
Sie
zeigen, was bei Menschen überhaupt durch eine nichtfrustrierende
Erziehung sich ausbilden kann, ein hautnahes, friedliches
Miteinadersein, das niemanden böse ausspielt oder mit Hass verfolgen
lässt.
Wenn der technische Stand einer Kultur und
ihre gelebte Moral nicht in enger Verzahnung sich wandeln, dann ist
nicht einzusehen, weshalb eine technische Hochkultur, um sich zu
erhalten und fortzuentwickeln, auf sexuelle Engherzigkeit angewiesen
sein soll.
Es kommt auch niemand auf den Gedanken zu fordern, unsere Techniker und Ingenieure hätten besonders sittsam zu leben.
Wir brauchen nicht das elektrische Licht abzuschaffen, um einander duldsamer zu begegnen.
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Quelle: "Eifersucht – Ein Lesebuch für Erwachsene", Heinz Körner.
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